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Gastbeitrag: Grau, kalt und weit weg?

Beinahe hätte Nowosibirsk ganz anders geheißen. Noch bis 1926 trug die Stadt den Namen Nowonikolajewsk, doch zur Sowjetzeit sollte sie umbenannt werden. Nach einem Aufruf in der Zeitung Sowjetskaja Sibir gingen Briefe mit allen nur erdenklichen Varianten ein. Wladimiro-Sibirsk, Nowoleninsk und Sibleningrad sind nur ein paar Beispiele. Meiner Meinung nach hat man sich letztendlich für die beste aller Möglichkeiten entschieden, die auch das heutige Wesen der Stadt noch gut beschreibt.

Denn die drittgrößte Stadt Russlands ist hinsichtlich Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur das unbestrittene Zentrum Sibiriens. Aus einer Siedlung für die Arbeiter entstanden, die an dieser Stelle eine Eisenbahnrücke über den Fluss Ob errichteten, ist Nowosibirsk heute ein zentraler Verkehrsknotenpunkt zwischen Ost und West sowie Süd und Nord. Im Stadtteil Akademgorodok befinden sich der Sitz der Sibirischen Abteilung der Russischen Akademie der Wissenschaften und zahlreiche Forschungseinrichtungen wie etwa das Budker-Institut für Kernphysik. Aushängeschilder im Kulturbereich sind das Staatliche Akademische Opern- und Ballett-Theater und das Kinotheater Pobeda.

Und nun zur Vorsilbe „Nowo“. Zwischen meinem ersten Besuch und dem derzeitigen Aufenthalt sind knapp eineinhalb Jahre vergangen. Vom Wesen her ist die Stadt gleich geblieben und doch hat sich einiges verändert. Weitere Hochhäuser mit Glasfassaden wurden fertiggestellt und daneben schon die nächsten begonnen. Zu den bisher schon vielen Restaurants, Bars und Cafés sind weitere hinzugekommen. Nach wie vor habe ich das Gefühl, dass die Stadt lebendig ist und es immer etwas Neues zu entdecken gibt. Doch während man in Moskau förmlich spüren kann, wie das Herz des Landes schlägt, geht es hier etwas ruhiger zu. Vermutlich ist Nowosibirsk in der Vorstellung vieler einfach nur grau, kalt und weit weg. Nachdem ich insgesamt ein halbes Jahr hier verbracht habe, würde ich alle diese Punkte mit „Ja, aber …“ beantworten.

Was „weit weg“ betrifft, liegt Nowosibirsk gemessen natürlich rund 5.000 Kilometer von Deutschland entfernt, aber gefühlt ist die Heimat für mich oft ganz nah. Es gibt hier erstaunlich viele deutsche Institutionen und entsprechend auch einige Deutsche. Das Interesse an Deutschland und der deutschen Sprache ist groß und mit einigen russischen Freunden kann ich mich problemlos einen ganzen Abend lang in meiner Muttersprache unterhalten. Auch die mit „weit weg“ verbundene Vorstellung, dass man hier vielleicht nicht alles kaufen kann, trifft überhaupt nicht zu. In zahlreichen Supermärkten und zum Teil anstrengend großen Einkaufszentren kann man so ziemlich alles bekommen, was es in Deutschland gibt.

Was „kalt“ betrifft, sind die eisigen Temperaturen Sibiriens leider keine falsche Vorstellung. Je nach Wind und Luftfeuchtigkeit stimmt die gefühlte Temperatur jedoch nicht immer mit der gemessenen überein und insgesamt sind niedrige Temperaturen hier erträglicher als in Deutschland. Zudem habe ich mir sagen lassen, dass man den Unterschied zwischen -20 und -40 Grad nicht mehr so stark spürt wie den zwischen 0 und -20 Grad. Bei den derzeit etwa -20 Grad lässt es sich noch erstaunlich gut auf der Straße aushalten. Und wenn es doch einmal zu kalt wird, kann man sich in eines der vielen gemütlichen Cafés flüchten und durchs Fenster beobachten, wie einige Russinnen auch auf vereisten Gehwegen gekonnt auf hohen Absätzen unterwegs sind.

Und nun zu „grau“. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass große Teile der Stadt von Architektur aus der Sowjetzeit geprägt sind und die Industrieviertel abseits des Zentrums sind wirklich keine Schönheit. Nowosibirsk ist kein Museum unter freiem Himmel wie St. Petersburg, hatte aber auch nur 125 Jahre Zeit, um interessante Architektur anzusammeln. Sehenswert ist zum Beispiel die 1899 fertiggestellte Alexander-Newski-Kathedrale mit ihren Backsteinmauern und goldenen Kuppeln. Auch die Fassade des Spartak-Stadions hat es mir angetan. Außerdem findet man hin und wieder ältere Holzhäuschen, in denen nach wie vor Menschen wohnen, ringsum von modernen Wohnblocks überragt. Nowosibirsk ist für mich an erster Stelle eine Ansammlung aus solchen Kontrasten.

Besonders beeindruckend sind auch die Momente, in denen die Natur und von Menschen Geschaffenes aufeinandertreffen. Etwa wenn eine Öffnung in der Metrobrücke einen kurzen Blick auf die verschneite Uferpromenade und die von Reif überzogenen Bäume in der Morgensonne freigibt. Oder wenn sich in Akademgorodok der Wald lichtet und die imposante Kuppel der Staatlichen Universität in der Ferne emporragt. In ihre Form wurde von einem Gotteshaus bis hin zur Star Wars-Figur R2-D2 schon so manches hineininterpretiert. Oder wenn sich die glitzernde Wasserfläche des Ob-Stausees über den Horizont hinaus bis ins Unendliche zu erstrecken scheint. Dann wird auch klar, warum der durch den Bau des Nowosibirsker Wasserkraftwerks entstandene See im Volksmund „Ob-Meer“ genannt wird.

Da ich alle diese Eindrücke gerne festhalten und mit Familie, Freunden und weiteren Interessierten teilen möchte, habe ich den Blog „Ein Jahr in Sibirien – Neues aus Nowosibirsk“ begonnen. Einen ganz anderen Blick – sozusagen von innen – ermöglichen die Texte, die die Teilnehmer meines Journalismus-Kurses im vergangenen Semester verfasst haben. Mit dem Blog „Mein Nowosibirsk – Studenten erzählen aus ihrer Stadt“ ist eine Sammlung aus informativen bis persönlichen Texten entstanden. Während Nowosibirsk für die einen Studenten das langersehnte Ziel war, würden andere die kalte und graue Stadt jedoch gerne schnellstmöglich verlassen.

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